Lasst uns gemeinsam essen!

Wir  müssen uns selbst kennen, um selbstbestimmt leben zu können. Doch wie gelingt uns das? Indem wir praktisch anerkennen, dass wir auf andere Menschen angewiesen sind, schreibt Axel Janitzki.

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© Julia Quentel

„Um nicht nur von Tag zu Tag in die Zukunft hineinzustolpern … brauchen wir ein Bild von dem, was wir sind und was wir werden wollen.“   Peter Bieri

Wir alle wollen ein selbstbestimmtes, ein glückliches Leben führen, ein Leben in Würde, sinnerfüllt. Wie kann ein solches Leben gelingen? Definieren lässt sich Glück nicht. Glück und Erfolg sind nicht planbar. Sie können sich einstellen und auch wieder verschwinden.

Was ist der Erfolg?“ lässt Thomas Mann den Senator Buddenbrock fragen und weiter ausführen: „Eine geheime, unbeschreibliche Kraft, Umsichtigkeit, Bereitschaft … das Bewusstsein, einen Druck auf die Bewegungen des Lebens um mich herum durch mein bloßes Vorhandensein auszuüben … Der Glaube an die Gefügigkeit des Lebens zu meinen Gunsten. Glück und Erfolg sind in uns. Wir müssen sie halten: fest, tief… Ich weiß, dass oft die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstiegs erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. Diese äußeren Zeichen brauchen Zeit, anzukommen, wie das Licht eines solchen Sternes dort oben, von dem wir nicht wissen, ob er nicht schon im Erlöschen begriffen, nicht schon erloschen ist, wenn er am hellsten strahlt.

Selbstbeauftragung

Freiheit bedeutet zunächst die Abwesenheit von Zwang und Bevormundung. Die Regeln meines eigenen Lebens selbst zu setzen, sein „Autor und Subjekt“ zu werden: das erfordert Widerstandsgeist, Überwindung und Selbsterkenntnis, so schreibt es der Philosoph Peter Bieri in seinem Buch "Wie wollen wir leben?". Wie wir selbst handeln wollen, die Stimmigkeit unseres Handelns, ist bedingt durch unser Verständnis von uns selbst und von der Welt. Wir brauchen Selbsterkenntnis vor allem, wenn unser Leben und unser Empfinden nicht mehr zusammenpassen. Das ist ein lebenspraktischer und für uns alle bestehender Grund: „Die Suche nach Selbsterkenntnis ist kein Luxus, kein künstliches philosophisches Ideal nur für wenige“, sagt Bieri zurecht.

  • Innere Selbstständigkeit
  • Sich selbst zum Thema werden
  • Sich in sich auskennen
  • Sich zur Sprache bringen
  • Der Blick der Anderen
  • Selbsterkenntnis durch Ausdruck
  • Selbstbestimmung durch Würde

sind Untergliederungspunkte der drei Vorlesungen, die Bieri zum Thema „Wie wollen wir leben?“ gehalten hat und die gerade darum so überzeugen, weil sie den ganzen Menschen in den Blick nehmen, den denkenden, fühlenden und wollenden Menschen. Für sich selbst findet der Philosoph Bieri in dem Schreiben erzählerischer Texte („Nachtzug nach Lissabon“) eine eigene konkrete Quelle der Selbsterkenntnis. Denn das ist doch die entscheidende Frage: auf welchem konkreten Wege komme ich zur Selbsterkenntnis, zum Selbsterleben und zur Selbstbestimmung?

Welcher „Schulungsweg“ führt zu einer Verlebendigung im Denken, Fühlen und Wollen, zu einer Vertiefung und Erweiterung verstanden als Imagination, Inspiration und Intuition?

Für mich ist das „Lebensbuch“ in diesem Sinne die etwas sperrig benannte Schrift Rudolf Steiners „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“, die ein zentrales, wenn nicht das zentrale Werk der Anthroposophie ist. In dem Kapitel „Innere Ruhe“ heißt es: „Schaffe dir Augenblicke innerer Ruhe und lerne in diesen Augenblicken das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden“. Neben den Stufen der Vorbereitung und geistigen Schulungen, täglichen Übungen, dem Gewahrwerden der Bedingungen für ein vertieftes Denken nennt Rudolf Steiner die Meditation, die Durchdringung mit Gedanken, die meditative Kraft haben, als wesentliches Merkmal und Mittel des Schulungsweges.

Niemand kann seine Würde allein wahren

Versteht man unter Würde das Entwicklungspotential eines Menschen („Werde“), wird gleich klar, dass niemand sich allein entwickeln kann. Wir sind auf die Hilfe anderer angewiesen. Bei Kindern, Menschen mit Behinderungen und alten Menschen ist das sofort einsichtig. Aber unabhängig von biografischen Aspekten oder Beeinträchtigungen gilt das doch für alle Menschen und in jeder Situation. Ich erlebe mich selbst erst in meinen Wirkungen auf andere. Wir versorgen uns auch nicht selbst, sondern leben in einer arbeitsteiligen Wirtschaft, in der jeder Mensch von jedem abhängig ist. Jeder ist für alle und alles verantwortlich. Wir werden diesen Tatsachen künftig mehr Aufmerksamkeit schenken:

  • Im Geldwesen wird uns bewusst werden, dass wir Geld nicht mehr „arbeiten“ lassenkönnen. Geld ist kein Selbstwert („Geld hat man zu haben“), sondern immer eineBeziehung zwischen Menschen. Wie gestalten wir künftig diese Beziehung? WelcheBanken wollen wir? Wir werden künftig solche Banken haben, die „aus Geld Geldmachen“ und solche Banken, die mit den Einlagen ihrer Mitglieder im Wege derKreditvergabe im Kern sinnvolle, soziale und ökologische Projekte fördern unddiese Vorgänge transparent machen. Es wird eine Frage des Lebensstils sein,welchem Bankverständnis wir uns anschließen.
  • Im Bereich der schulischen Ausbildung werden Eltern sich künftig mehr und mehrfragen, ob sie ihre Verantwortung am Eingang der Schule abgeben und ihre Kinderstaatlichen Ausbildungsplänen und Strukturen überlassen wollen, die sichweniger an den individuellen Anforderungen eines jeden Kindes als an derökonomischen Verwertbarkeit der Ausbildung orientieren.
  • In der Landwirtschaft wird der Gegensatz zwischen Verbraucher und Produzent inFrage gestellt werden. Landwirtschaft geht alle an. Von der Landwirtschafthängt nicht nur der Fortbestand unserer ökologischen Lebensgrundlagen ab.Jegliche wirtschaftliche Produktion steht im untrennbaren Zusammenhang mit der„Urproduktion“ und den ganzheitlichen Arbeitsfeldern der Landwirtschaft. NeueFormen einer sozialen und solidarischen Landwirtschaft werden einegesellschaftlich wirksame Alternative sein zur Bereitstellung vonNahrungsmitteln durch einige wenige Weltkonzerne.
  • Wie wollen wir künftig wohnen? Soll es das Reihenhaus, die Eigentumswohnung, dasEigenheim sein? Neue gemeinschaftlichere Wohnformenneue werden neue kulturelleund soziale Impulse ermöglichen.
  • Wie wollen wir künftig arbeiten? Wir werden künftig Arbeit nicht in erster Linieals Vorgang zur Einkommenserzielung, sondern als Mittel zur Verwirklichung vonFreiheitsimpulsen und Merkmal eines gelingenden Lebens verstehen.

Zweckfreie Räume schaffen

Jeder künstlerische Vorgang – darin unterscheidet er sich von handwerklichen Vorgängen oder einer bloßen Reproduktion – ist frei und kann dadurch wirken, dass er keine Zwecke vermittelt, sondern dem Betrachter freilassend Erlebnisse ermöglicht. Auch im sozialen Bereich gibt es eine solche freilassende Wirksamkeit. Die „geheimnisvolle Reise“ (Novalis) geht nicht nur nach innen. Wir sind in der Tat keine gedanklichen Inseln. „Es gibt zwischen Menschen eine Art der Begegnung“, so Bieri, „die wir als in sich wertvoll erleben und die man moralische Intimität nennen könnte … Durch diese Empfindungen werden Menschen füreinander in einer Weise wichtig, wie sie es als bloß vernünftige Partner im sozialen Spiel nicht werden könnten“.

 Es kommt darauf an, Orte nicht nur in einem räumlichen Sinne zu schaffen, die eine solche Begegnung ermöglichen.

 Welche Chancen liegen beispielsweise in einer neuen Essenskultur? Wollen wir immer nur im kleinen Kreise der Familie, mit Arbeitskollegen, im Zuge beruflicher Tätigkeiten essen und damit mehr einer Notwendigkeit nachkommen als Geselligkeit zu pflegen? Wer hätte nicht schon die Erfahrung gemacht, dass gemeinsames Essen verbindet, und aus einer solchen Situation überraschend neue Impulse und Erneuerungskräfte entstehen? Beim gemeinsamen Essen erleben wir, dass wir das Essen anderen verdanken, insofern Gleiche unter Gleichen sind, nicht nur funktionieren, sondern leben.

 Wie gestalten wir unsere Gemeinschaften überhaupt? Richten wir sie nur auf Funktionieren aus oder lassen wir bewusst auch in unseren Rechtsverhältnissen Freiheitsräume zu, in denen wir uns unabhängig von unseren Funktionen als Menschen und in unseren Beziehungen ständig neu „erfinden“ können?

 Zweckfreie Räume entstehen – vielleicht nolens volens – im Alter. Im Alter kann es nicht mehr in erster Linie auf „Funktionieren“ ankommen. Beeindruckt hat mich ein Bericht aus einer „Altenwohngemeinschaft“, dass nicht die Tatsache des gemeinsamen weitgehend selbstbestimmten Wohnens das Gelingen des Projektes in erster Linie ermöglicht, sondern dass sich die Mitbewohner jeden Morgen treffen, um einen gemeinsamen Text zu lesen und darüber ins Gespräch zu kommen.